Ich befinde mich auf dem Zentralmarkt von Chişinău – dem Rynok, wie man ihn hier nennt. Ein rauer, authentischer Name, der nach vergangener Zeit klingt. Ich gehe zwischen den Ständen umher, mit der gleichen Ehrfurcht, mit der man eine Volkskathedrale betritt. Märkte geben mir immer ein Gefühl der Freude: Das Leben pulsiert hier, mischt sich, tauscht sich aus. Es ist nicht wie in Supermärkten, wo alles geordnet und kühl ist. Hier, zwischen Stimmen, Farben und Gerüchen, begegnet man der Menschlichkeit.
Zu dieser Jahreszeit verkaufen fast alle dasselbe: Erdbeeren, Tomaten, Äpfel, Birnen. Türkische Zitrusfrüchte. Die Erdbeeren – vielleicht aus Gewächshäusern – scheinen den Sommer zu versprechen. Und ich weiß schon jetzt, dass ich der Versuchung nachgeben werde: Ich werde ein Körbchen für das Frühstück kaufen, vielleicht für das Abendessen. In dieser Geste liegt etwas Tröstliches. Wie im Leben suche ich etwas, das ich noch nicht gefunden habe. Eine Frucht, ein Traum. Vielleicht kommt sie im Juni, wer weiß. Maulbeeren – Scholkoviza, wie sie hier heißen – diese zerbrechlichen Früchte, die Finger und Erinnerung färben.
Doch es sind nicht die vollen Stände, die mich berühren. Es sind vielmehr die improvisierten, außerhalb des Marktes. Provisorische Tische, Straßenecken, wo eine alte Babuschka drei Gläser Honig und ein paar Bündel Kräuter verkauft – vielleicht das Einzige, was sie besitzt. Nicht um zu verdienen, sondern um zu überleben. Um eine Rente aufzubessern, die kaum zum Atmen reicht. Hinter diesen gezeichneten Gesichtern verbirgt sich eine Geschichte, die niemand mehr erzählt. Eine Welt, die niemanden mehr interessiert.
Chişinău glänzt heute im neuen, westlichen Reichtum. Große SUVs, elegante Cafés, Boutiquen. Doch der Kontrast zu diesen Randfiguren ist brutal, fast grausam. Es sind die Vergessenen der Geschichte. Menschen, die von einer Revolution hinweggefegt wurden, die sie nicht gewählt haben. Sie haben den Wandel durchlebt, aber keine Früchte geerntet. Sie sind geblieben, festgefroren in einer Zeit, die nicht mehr existiert. Sie leben in einer Erinnerung ohne Staatsbürgerschaft. Eine Erinnerung, die langsam geht, gebeugt, mit einer Tasche voller Zwiebeln oder einem Beutel Walnüsse.
So viele stille Opfer, so viele Leben, geopfert unter dem Versprechen von Wohlstand und Reichtum. Für sie empfinde ich nicht nur Mitgefühl – ich fühle eine tiefe Verbundenheit. In diesem Moment fühle ich mich ihnen nah, als wäre ich selbst einer von ihnen, einer der Vergessenen der Geschichte.
Nicht wegen materieller Armut, sondern wegen Ausgrenzung. Denn auch sie, wie ich, wurden von einer Geschichte zurückgelassen, die sie nicht mehr benennt. Einer Geschichte, die einst von Familie sprach, von Vätern. Einer Geschichte, die jetzt ohne mich geschrieben wird. Und ich, wie sie, bin am Rand geblieben: nicht besiegt, sondern vergessen.
Und so fühle ich mich weniger allein: als Teil einer Menschlichkeit, die – trotz allem – noch atmet.