Der Seiltänzer

Ich weiß nicht, ob es mir eines Tages gelingt, Frieden mit mir selbst zu schließen, aber wenn es geschieht, dann nur durch das Schreiben. Keine äußere Hilfe, keine Medikamente, kein Trost – nur das Schreiben. Schreiben als Akt des Widerstands, wie ein Tunnel, mit bloßen Händen in den Felsen des Schmerzes gegraben. Eine langsame, mühsame, stille, aber notwendige Röhre.

Das Schreiben ist mein Schild geworden, um nicht in den Wahnsinn zu stürzen. Wenn alles zu zerbrechen droht, wenn die Stimmung durch eine belanglose Geste, ein Geräusch, irgendein Detail ins Wanken gerät, das den Abgrund aufweckt, dann ist es das Schreiben, das mich hält, das mich verankert.

Ich habe mich davon überzeugt, dass ich, um aus der Krise herauszukommen, einen großen Akt des Egoismus vollbringen muss. Aber vielleicht ist es gar kein Egoismus: Vielleicht ist es Liebe zu dem, was von mir übrig geblieben ist. Denn es ist gerade die Liebe, die uns an den Schmerz bindet. Nicht lieben zu können, tut weh. Und die Wut, die zurückkehrt, dient vielleicht dazu, das zu schützen, was in uns noch lebt – unsere Fähigkeit zu lieben, auch uns selbst.

In diesem Zustand zu gehen ist wie ein Seiltanz. Man darf sich nicht fragen, wohin man geht. Man muss einfach weiter auf dem gespannten Seil gehen, ohne sich umzudrehen, ohne Fragen zu stellen, die einen ins Wanken bringen. Ein einziger Gedanke, ein Blick nach unten, und man riskiert den Sturz.

Mein Schritt ist nicht sicher. Zu sehr ausgeliefert den Ereignissen, zu viele Variablen außerhalb meiner Kontrolle. Selbst wenn ich glaube, der Schritt sei fester, ist das Risiko zu stürzen immer da, bereit, sich erneut zu zeigen. Ein Windhauch genügt, und all die Mühe scheint umsonst.

Diese Nacht fließen die Gedanken unaufhörlich. Mein Gehirn ist schneller als meine Finger, die nicht hinterherkommen. Keine logische Kette kann sie halten: Sie bewegen sich frei, folgen geheimen Verbindungen, verborgenen Falten des Bewusstseins. Und vielleicht ist das gut so. Vielleicht gehört auch das zum Weg.

Das Schreiben hält mich im Gleichgewicht. Es sucht keine Antworten, aber es verhindert, dass der Wahnsinn überhandnimmt. Und solange ich schreiben kann, weiß ich, dass ich nicht verloren bin.

Deshalb schlafe ich nicht. Weil die Nacht die Zeit ist, in der der Seiltänzer aufhört, Stabilität vorzutäuschen, und sich den Luxus gönnt, alles zu spüren. In der Dunkelheit klingt jeder Schritt lauter. Jeder Gedanke verlangt Gehör. Und ich kann mich nicht abwenden.

Schreiben ist keine Therapiegruppe. Es ist ein heiliger Ritus. Schreiben, um dem Feind eine Gestalt zu geben. Schreiben, um ihn zu zwingen, aus mir herauszukommen. Nur so wird der Feind verwundbar.

Ich sehe ein schwaches Licht durch das Fenster: Ein neuer Tag bahnt sich seinen Weg.
Und wir begegnen ihm, indem wir zeigen, dass wir einen weiteren kleinen Schritt in Richtung Rettung gemacht haben.

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