Brief zum Ersten Mai
Seite aus dem Tagebuch des Wartens
Heute ist der erste Mai.
Einst füllten sich an diesem Tag die Straßen mit Stimmen, mit Händen, die sich drückten, mit Schritten, die sich zu einem gemeinsamen Platz bewegten. Heute nicht. Heute gehe ich allein, auf Bergpfaden und durch Wälder, die noch vom Nachtregen feucht sind.
Die Natur empfängt mich mit einer Stille, die nicht leer ist, sondern ein Atemzug. Die Vögel singen, der Wind streicht durch die Bäume, und ich gehe. Nicht um zu fliehen, sondern um mir selbst in Erinnerung zu rufen, dass ich existiere.
Es ist ein einsamer Spaziergang, ja. Die Kinder sind nicht bei mir, und doch sehe ich sie überall: dort, wo eine Wurzel aus dem Boden ragt und zum Spiel wird, dort, wo der Bach Geschichten murmelt, die ich ihnen gerne erzählt hätte.
Aber diese Einsamkeit ist anders: sie ist voll von der Schönheit des Lebens, denn die Natur verurteilt mich heute nicht, sie weist mich nicht zurück, sie klagt mich nicht an.
Heute nimmt mich die Natur auf. Und in dieser grünen Umarmung fühle ich mich – trotz allem – noch immer als Teil von etwas. Teil einer Ordnung, die nicht ausschließt, eines Universums, das sich nicht gegen mich wehrt.
Und gerade beim Gehen in der Natur verstehe ich: Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist keine menschliche Erfindung. Es ist etwas, das jeder Sprache vorausgeht.
Ich sehe es bei den Ameisen, die in einer Linie marschieren. Ich sehe es bei den Pilzen, die um die Wurzeln wachsen, bei den Bäumen, die unterirdische Netzwerke spinnen, um sich gegenseitig zu stützen.
Auch der Mensch war Teil dieses Plans. Aber heute hat er es vergessen. Oder man hat ihm beigebracht, es zu vergessen.
Und heute, am Ersten Mai, wird mir das alles umso deutlicher.
Ich denke nicht an Arbeit als Lohn oder Vertrag. Ich denke an Arbeit als Würde und als Bindung.
Einst vereinten sich die Menschen an diesem Tag nicht unter einem Banner, sondern unter einem gemeinsamen Bedürfnis: sich als Teil von etwas zu fühlen.
Vielleicht wurden die Plätze instrumentalisiert. Aber unter diesen Fahnen waren Gesichter, Hände, einfache Geschichten.
Es war ein Tag, der daran erinnerte, dass Freiheit und Republik keine Geschenke, sondern Errungenschaften waren.
„Italien ist eine demokratische Republik, die auf Arbeit gegründet ist.“
Nicht auf Privilegien. Auf Arbeit. Auf geteilte Anstrengung, auf eine gemeinsam gewollte Zukunft.
Vielleicht ist es das, was mich am meisten schmerzt: zu sehen, dass auch der Vater, wie der Arbeiter, isoliert wurde.
Früher war der Vater eine lebendige Figur. Heute ist er ein verlorener Mensch, oft unsichtbar.
Wie der heutige Arbeiter: nicht mehr Teil eines Körpers, sondern ein Nutzer, eine Nummer, eine Insel.
Wir leben in einer Welt, die uns überzeugt hat, dass Gemeinschaft ein Hindernis ist und Unabhängigkeit ein absoluter Wert.
Ein Bauer sagte einmal, während er ein Handy hielt:
„Jetzt kann ich mit dem Internet kostenlos mit jemandem in Neuseeland sprechen... Aber was sollen wir uns danach sagen?“
Er hatte recht.
Wir sind mit der ganzen Welt verbunden, aber wir wissen nicht mehr, wie man miteinander spricht.
Und deshalb gehe ich heute.
Um mich selbst – und vielleicht auch euch – daran zu erinnern, dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit keine Schwäche ist. Es ist Natur.
Und ich, heute, am Ersten Mai, zwischen Bäumen und Stille, widerstehe.
Nicht der Einsamkeit, sondern der Vorstellung, dass sie normal sei.