Der Unsichtbare Mann

Ein Märchen für Erwachsene, die nur halb überlebt haben

Mann mit verschwommenen Konturen

Eines Tages wachte GS mit einem seltsamen Gefühl auf. Nichts Konkretes, nichts Schmerzhaftes. Nur eine Abwesenheit. Etwas, das vorher da war — und jetzt nicht mehr.

Er dachte, es sei eine unruhige Nacht gewesen, oder ein zu schweres Abendessen. Er stand auf — oder glaubte es zumindest. Er versuchte, das Bett zu richten, aber die Laken bewegten sich nicht.

Beunruhigt ging er ins Badezimmer. Trat vor den Spiegel. Doch er sah nichts. Der Spiegel zeigte nur die Wand hinter ihm, aber nicht sein Gesicht. Nicht seinen Körper. Nicht ihn.

Er begann zu schreien. Rief nach seiner Frau. Rief nach seinen Kindern — Enrico, Ettore, Eleonora. Aber niemand hörte ihn.

Unsichtbarer Mann neben Kindern

Die Kinder waren da. GS versuchte, sie zu berühren, zu küssen, zu umarmen. Keine Reaktion. Kein Zittern. Kein Blick. Er war unsichtbar geworden. Auch für sie.

Und da verstand GS die Wahrheit. Es war kein Albtraum. Kein Missverständnis. Er war zur Unsichtbarkeit verurteilt worden. Ein Urteil ohne Prozess. Eine Strafe ohne Berufung. Die Strafe für jemanden, der zu sehr geliebt hatte. Die grausamste Strafe. Schlimmer als der Tod. Denn wer stirbt, wird wenigstens erinnert. Wer unsichtbar ist, wird vergessen, obwohl er noch lebt.

Und in dieser stillen Verurteilung musste GS weiter existieren. Sehen. Hören. Aber nicht mehr sein.

Sozialarbeiterinnen mit Kindern

Dann klingelte es an der Tür. Enrico lief zum Öffnen. Zwei Frauen, die nur die Mutter zu kennen schien, traten ein. Sie setzten sich und begannen zu sprechen.

– "Euer Papa... ist gegangen."
– "Er war nicht der richtige Mann für euch."
– "Jetzt seid ihr in Sicherheit."

GS schrie. Niemand hörte ihn. Er wollte kämpfen. Aber die Realität war stärker als die Wahrheit. Und er war außerhalb von beidem.

Am Abend hatte GS eine Eingebung. "Ich werde schreiben. Ich werde überall schreiben, an die Wände, auf die Straßen. Ich werde meine Geschichte erzählen." Er nahm einen Stift. Schrieb auf ein Blatt: "Ich bin der Vater, den ihr nicht seht. Ich bin nicht gegangen. Man hat mich ausgelöscht."

Nach wenigen Sekunden verschwanden die Worte. Das Blatt wurde wieder weiß. Er versuchte es erneut. Ein anderer Satz. Ein anderes Blatt. Doch nichts blieb. Kein Wort überlebte seine Hand.

Unsichtbarer Mann mit Koffer

Er beschloss zu gehen. "Ich gehe dorthin, wo man mich kannte. Wo mein Name eine Bedeutung hatte." Doch selbst dort, unter alten Freunden, unter vertrauten Gesichtern, sah ihn niemand. Niemand erkannte ihn. Niemand erinnerte sich.

Brücke mit schwebendem Mann

Und so stieg GS eines Nachts allein auf eine Brücke. Er blickte in den dunklen Fluss. Dachte: "Wenigstens das kann ich tun. Wenigstens kann ich ganz verschwinden."

Und er sprang. Aber er fiel nicht. Er hatte kein Gewicht mehr. Keinen Körper mehr. Selbst der Tod war ihm verweigert.

Dann begann er zu steigen. Zu schweben. Über die Stadt. Über die Lichter. In den Himmel. Er fand eine Wolke. Er setzte sich darauf. Er entdeckte, dass er, indem er sie berührte, ihre Form verändern konnte.

Anfangs war es ein Spiel. Dann eine Idee. Dann eine neue Stimme. Er versuchte, Buchstaben zu formen. Dann Worte. Und es gelang ihm.

Er schrieb: "P A P A   I S T   H I E R."

Wolke mit der Aufschrift Papa ist hier

Er tat es, ohne etwas zu fordern. Er tat es, um eine Spur zu hinterlassen. Er tat es, weil keine Unsichtbarkeit absolut ist, solange man noch Liebe zu geben hat.

Vielleicht wird Enrico eines Tages nach oben blicken und einen Moment innehalten. Vielleicht wird Ettore lächeln, ohne zu wissen warum. Vielleicht wird Eleonora sagen: "Schaut diese Wolke... sie scheint mit uns zu sprechen."

Und selbst wenn niemand weiß, wer es war, wird jemand wissen, dass es Liebe war.

Ein Märchen für jene, die die Stille erlebt haben. Für jene, die nicht gesehen wurden. Für jene, die auch unsichtbar weitergeliebt haben.

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