DER TIERGERICHTSHOF

(Eine Fabel für die, die denken)

Es war einmal ein Bauernhof, eingezäunt von hohen Hecken des Schweigens. Keine Spiegel, keine Teiche, nur Gehege. Die Tiere lebten drinnen, ohne sich zu hinterfragen. Sie brüllten nicht. Sie knurrten nicht. Aber ihre Augen waren leer und ihre Herzen gehorchten.

In der Mitte stand ein großes, graues Gebäude. Es war der Tiergerichtshof. Niemand wusste genau, wie er funktionierte. Aber alle wussten, dass er Urteile fällte.

Direkt daneben stand eine Maschine. Niemand wagte, ihr einen anderen Namen zu geben als den offiziellen: Konformitätsmaschine. Sie summte Tag und Nacht und canticchiava dabei alte harmlose Marschlieder, die eine Art künstliche Herzlichkeit verbreiteten. Sie zerkleinerte Gefühle, Geschichten und Federn der Liebe, bis alles gleich aussah. Ein großer Trichter obendrauf, ein Spalt unten. Alles, was oben hineinging, kam unten standardisiert heraus. Vereinheitlicht. Bewertet. Klassifiziert.

An der Spitze des Gerichtshofs saß die blinde Eule. Sie trug ein Gewand und sprach Urteile. Sie sprach sie, ohne zu sehen, ohne zuzuhören. Die Komplexität der (menschlichen) Beziehungen interessierte sie nicht. Sie bevorzugte einfache Lösungen, die man leicht in ein Urteil schreiben konnte. Urteile, die Applaus von den anderen Tieren brachten.

Wenn jemand sich über eine Entscheidung beschwerte, antwortete die Eule: „Es ist alles nach Vorschrift.“

Die Tiere nickten. Denn so hatte man es ihnen beigebracht.

Dann gab es noch die Nestmäuse. Sie sahen niedlich aus. Aber sie waren die weiche Seite derselben Münze. Sie waren es, die darüber entschieden, wer bei wem leben durfte. Immer aus „pädagogischen Gründen“. Sie kamen ins Nest, wenn die Eltern nicht da waren. Sie schrieben Berichte. Und wenn man fragte, warum, antworteten sie: „Es ist zu deinem Besten.“

Die Nestmäuse erklärten, dass das Nest dem Hof gehöre, nicht den Vögeln, die es gebaut hatten. Und dass der Hof entscheiden durfte, wer darin wohnen durfte und wer nicht.

Und dann war da noch der weiße Rabe. Er war anders. Seine Stimme war leise, aber klar. Er wollte kein Recht haben, sondern seine Küken großziehen. Er hatte seinen Flug unterbrochen, um sein Nest zu bauen. Und er liebte mit einer Liebe, die kein Gesetz messen konnte.

Eines Tages erhielt der weiße Rabe ein Schreiben. Er war vorgeladen. Er stand allein vor dem Tiergerichtshof. Die Eule sprach ihr Urteil. Die Nestmäuse beobachteten. Die anderen Tiere sahen weg. Und die Maschine lief weiter.

Der Rabe versuchte, seine Geschichte zu erzählen. Er sprach von seinen Küken, von der Liebe, von der Zeit, die er ihnen gewidmet hatte. Doch niemand hörte zu. Das Urteil war bereits gefällt.

Verzweifelt wandte sich der Rabe an die Hyänen. Sie rochen den Schmerz und zeigten ihre Zähne. Sie boten Hilfe an. Gegen ein paar Federn. Der Rabe willigte ein. Die Hyänen versprachen, für ihn zu sprechen, ihm zu helfen. Und sie begannen, ihm die Federn auszureißen. Mit jedem Versprechen eine. „Das wird dir helfen“, sagten sie. „Noch eine, und die Eule wird zuhören.“

Bald war der Rabe nackt. Aber die Eule hatte sich nicht bewegt.

Die Hyänen zogen ab. Zufrieden. Sie hatten bekommen, was sie wollten.

Der Rabe suchte die Schlange auf. Sie war alt, weise, sagte man. Er fragte sie: „Warum hilft mir niemand?“

Die Schlange zischte: „Es ist der Preis des übergeordneten Wohls.“

Der Rabe ging weiter. Er begegnete den Papageien. Sie hockten auf ihren Stangen, lasen das Urteil laut vor. Wort für Wort. Ohne es zu verstehen. Und wieder. Und wieder.

Der Rabe hob seinen Blick. Er sah den Strauß. „Siehst du nicht, was passiert?“ fragte er. Doch der Strauß hatte bereits den Kopf im Sand.

Der Rabe wandte sich an das Nest. Er wollte seine Küken sehen. Doch die Nestmäuse hielten ihn zurück. „Wir werden uns um sie kümmern. Geh.“

Er blieb in der Nähe, versteckt. Und eines Tages hörte er die Nestmäuse flüstern: „Sucht euren Vater nicht. Er ist weggeflogen. Er hat euch verlassen.“

Der Rabe sah seine Küken aus der Ferne. Sie spielten. Aber sie blickten nie zum Himmel.

Er grub sich tiefer. Und dort, im Schatten, begegnete er dem Maulwurf. Alt. Müde. Aber mit Augen, die sahen. Der Maulwurf reichte ihm ein altes Dokument. Es war der Beweis. Ein einziges Pergament. Das Richtige.

Es zeigte, dass die Eule, die Nestmäuse, die Hyänen und die Schlange alles gewusst hatten. Dass alle einverstanden waren.

Der Rabe trat hervor. Er zeigte das Dokument. Und einen Moment lang erstarrte der Hof.

Aber dann kehrte alles zurück wie zuvor. Die Strauße steckten ihre Köpfe wieder in den Sand. Die Papageien beeilten sich, eine Gegendarstellung zu lesen. Die Schlange erklärte, die Krise sei vorbei. Die Hyänen kehrten zurück, noch gieriger. Und die Nestmäuse erzählten den Küken neue Geschichten.

Die Konformitätsmaschine lief wieder.

Und so beschloss der weiße Rabe, höher zu fliegen als je zuvor. Und verschwand aus dem Blick der anderen Tiere.

Der Bauernhof war stärker gewesen. Er vergaß die Geschichte. Er vergaß sogar, dass es jemals einen weißen Raben gegeben hatte.

Aber der Rabe lebte. In seiner Andersartigkeit. In seiner wahren Freiheit. Manchmal dachte er an seine Küken. Ob sie schwarz geworden waren. Oder ob sie irgendwo sein Weiß behalten hatten.

Und dieser letzte Gedanke... brachte ihn zum Lächeln.

Anhang für die, die noch nicht alles erkannt haben:

🦉 Die blinde Eule ist die Justiz, die nicht sieht, nicht hört, aber richtet.

🐹 Die Nestmäuse sind die sozialen Dienste, die den Schutz vor die Wahrheit stellen.

🐕‍🦺 Die Hyänen sind die Profiteure des Schmerzes.

🦜 Die Papageien sind die Medien, die wiederholen, ohne zu verstehen.

🐍 Die Schlange ist die kalte Logik der Macht.

🐣 Der Strauß ist die öffentliche Meinung, die nichts sehen will.

🕳️ Der Maulwurf ist das Gewissen, das sieht, auch wenn es im Dunkeln lebt.

🐦 Der weiße Rabe bist vielleicht du.

Wenn du keine dieser Figuren erkennst, dann lebst du vielleicht nicht in einem Bauernhof.
Oder... du lebst zu gut darin.

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